Die klanglichen Auswirkungen

von Erzb. Orgelinspektor M. Dücker

Als ich im Jahr 1983 die Stieffell-Orgel zu Rastatt St.Alexander kennenlernte, stellte sie nur noch einen Schatten ihrer einstigen Pracht vor. Die Technik, die Windversorgung, die Pfeifen, ja selbst das Gehäuse waren in einem beklagenswerten Zustand. Bei der letzten Restaurierung im Jahre 1962 wurde natürlich auch die Windanlage "zeitgemäß" mit Schwimmerbalg und Ladenbälgen eingerichtet, so daß man nur mit viel gutem Willen und sensiblem Zuhören eine Ahnung vom Klang der Stieffell-Orgel bekommen konnte.

Insonderheit das klangliche Ergebnis der Restaurierung der Ludgeri-Orgel zu Norden, die sich s. Zt. ja auch in einem vergleichbar heruntergewirtschafteten Zustand befand, hat mich Mitte der 80iger Jahre begeistert und ermutigt, für eine Restaurierung der Rastatter Stieffell-Orgel die nötige Überzeugungsarbeit zu leisten. Von Anfang an war allen Beteiligten klar, dass das Fundament für eine gelungene klangliche Wiederbelebung nur durch eine vollständige Rekonstruktion der Windanlage gelegt werden konnte. Viele Gespräche mit kompetenten Orgelbauern halfen das Problembewußtsein zu schärfen.

Wir versprachen uns davon einiges, wenn nicht alles, den entscheidenden " Kick" für den Klang der Stieffell-Orgel. Bei der Montage und Intonation im Sommer 1993 war die Windversorgung zunächst eine provisorische mit einem hinreichenden Ventus und einem Schwimmerbalg. Dieser Motorwind wurde in das schon fertiggestellte Kanalsystem eingespeist und mußte die Intonation alimentieren.

Die Balganlage und die Bälge waren um diese Zeit schon fertig eingebaut, die elektronische Steuerungsanlage ließ aber noch auf sich warten. Aber die Bälge konnten schon per Hand mit Seilen aufgezogen werden, sodass in dieser Phase zwei völlig getrennte Windanlagen zur Verfügung standen. Das waren einmalige Bedingungen! Und als die ersten Grundstimmen fertiggestellt waren, konnten wir in St. Alexander eine, ohne Übertreibung als sensationell zu bezeichnende Hörprobe durchführen: Der klangliche Unterschied zwischen Motorwind und geschöpftem Wind von sechs großen Keilbälgen konnte " live" unmittelbar am selben Objekt erlebt und verglichen werden. Erst wieder 1999, so wird berichtet, habe man das in Ebersmünster bei der Einweihung der restaurierten Silbermann-Orgel erleben können, wo einige Orgelbauer nach dem "fahlen" Eröffnungskonzert nächtens auf die Empore schlichen, um ein wenig "handgeschöpfte" Musik zu machen. Da seien einigen doch die Ohren aufgegangen...

Nun, uns gingen schon damals im Sommer 1993 immer wieder die Ohren auf. Wir konnten uns am Unterschied der beiden Winde nicht satt hören. Um diesen Eindruck in Sprache zu fassen, kann ich mich nur, und das ist doch bezeichnend, ausschließlich sängerischer Begriffe und Bilder bedienen: Uns wurde die wohltuende Klangenergie einer "geräumigen Lunge" auf´s angenehmste sinnenfällig: Die Orgel fing an zu singen, sie bekam eine souverän wirkende klangliche Weite. Fundament aller Singkunst ist die richtige Atmung. Nur in Verbindung von Flankenatmung und Aktivierung der Zwischenrippenmuskulatur stellt sich jenes, dem "wissenden Sänger" wohlvertraute, unüberbietbar angenehme Gefühl fast "schwebender", nie erlahmender Weite ein, die allein das drucklose und deshalb wirklich anrührende Singen gewährleistet. Das oftmals als "entgrenzt" empfundene Körpergefühl suggeriert die physiologisch natürlich unmögliche Gleichzeitigkeit von Ein- und Ausatmung. Viele bedeutende Sänger berichten, daß sie im stimmigen Moment nicht zu sagen vermögen, ob sie ein – oder ausatmen. Der Atem "fließe" einfach. Ein in der Stimmbildung häufiger gebrauchtes Bild spricht schlicht aber doch sehr exakt vom Gefühl des "Durchzugs". Das ist es eigentlich schon: Der Wind weht! Bei der Orgel, diesem größten aller Blasinstrumente, scheint mir der für den drucklosen, anrührenden Klang so entscheidende Vorgang ein ähnlicher zu sein: Der Wind muß, damit er "wehen" kann, über einen hinlänglich Auslauf (Raum) verfügen.

Die sängerisch korrekte Atmung stellt automatisch den Kehlkopf tief, optimiert so das "Ansatzrohr". Dem entspricht die geglückte Ausgestaltung aller intonatorischen Parameter an der Orgelpfeife.

Zum Schluß eine nicht ganz ernst zu nehmende Vision

Die Orgel ist ein Blasinstrument, aber längst nicht alle Organisten wissen das. Sie spielen gegen den Atem der Orgel und manchesmal auch gegen ihren eigenen Atem. Vielleicht gibt es ja eines Tages ein "vollelektronisches Windsteuerungsmodul", das in das Atemzentrum des Organisten implantiert , ihm ganz unmittelbar die Bereitstellung des Orgelwinds anheimstellt. Was da wohl für eine Musik herauskäme? Als eine äusserst informative, musikalisch höchst anregende "Vorstufe" diese Moduls empfinde ich die Balganlage der Stieffell-Orgel in St. Alexander zu Rastatt.